Es ist davon auszugehen, dass nicht wenige erwachsene Legastheniker Schwierigkeiten mit dem Selbstwertgefühl haben. In der Praxis sind uns bis heute nur wenige Betroffene begegnet, die damit keine Schwierigkeiten haben.
Entwicklungspsychologisch gesehen entwickelt sich das Selbstbewusstsein in der frühen Kindheit und es kann dabei vom sozialen Umfeld der Familie (Schule, Freunde, Hobbys usw.) gefördert werden. Genau wie sich das Selbstbewusstsein positiv entwickeln kann, besteht auch die Gefahr, dass diese wichtige Grundlage für eine psychische Widerstandsfähigkeit bei den Betroffenen schwächer ausgebildet bzw. gefördert wurde.
Wichtig für das Selbstbewusstsein sind die Erfahrungen in der Schulzeit. Welche schulischen Erfolge gab es, wie wurde das von den Eltern wertgeschätzt? Gab es verständnisvolle Lehrer und Freunde? Diese Erfahrungen sind bei den Betroffenen unterschiedlich. Erlebte Niederlagen, die am Selbstbewusstsein nagen können, werden unterschiedlich verarbeitet und durchlebt. Dabei spielt die Institution Familie als sicherer Zufluchtsort, der den Betroffenen Verständnis und Geborgenheit bietet, eine wichtige Rolle für ihre Stabilität. Wurden die schulischen Probleme in der Schule nicht richtig erkannt? Hatten die Eltern wenig Verständnis für die Probleme der Kinder und konnten sich nicht in ihre Lage hineinversetzen? Dann besteht die Gefahr, dass die Betroffenen sich einbilden, dass etwas mit ihnen nicht stimmen mag. Darum besteht bei der medizinischen Diagnose „Lese-Rechtschreib-Störung“ die Gefahr, dass sich dieses Störbild nicht gut auf das Selbstbewusstsein des Betroffenen auswirkt. Welcher Legastheniker wird denn schon ganz selbstbewusst zu seiner „Störung“ stehen?
Die medizinische Diagnostik nach der ICD-10 sollte schon wegen der psychischen Folgen und des Nutzens für die Betroffenen hinterfragt werden. Signalisieren Eltern den Kindern schon früh in der Kindheit, dass sie wahrnehmungsgestört sind oder eine Lese-Rechtschreib-Störung haben, wird sich das unweigerlich auf die seelische Entwicklung der Betroffenen auswirken. Genauso kann sich eine Separation in eine LRS-Klasse bis in das Erwachsenenalter negativ auswirken.
Die wichtigen Vorerfahrungen prägen die Betroffenen, wie sie sich in ihrem Selbstbewusstsein entwickeln. Da wir bis heute in einer Gesellschaft leben, in der eine Legasthenie ein unausgesprochenes Stigma bedeutet, hat auch ein großer Teil der Betroffenen Schwierigkeiten mit dem Selbstbewusstsein. Dies beobachten wir bei nicht wenigen Erwachsenen.
Bewältigen Erwachsene ihre Schwierigkeiten, besteht die Chance ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln. Das ist meistens harte Arbeit. Denn eine Legasthenie geht nicht selten mit Versagensängsten und Problemen mit dem Selbstwertgefühl einher, die mit dem schulischen Versagen der Schulzeit zusammenhängen. Die biografische Entwicklung der Betroffenen ist unterschiedlich.
Wie gut sich das Selbstbewusstsein der erwachsenen Legastheniker entwickeln wird, hängt von vielen Faktoren und Umweltbedingungen hab. Dabei spielt die Familie als Institution eine wichtige Rolle. Erfahren die Betroffenen trotz ihrer Schwäche Liebe und Wertschätzung und leben sie in stabilen familiären Verhältnissen, besteht die Chance, sich trotz der schulischen Schwierigkeiten seelisch stabil zu entwickeln, was man heute Resilienz nennt. Haben Betroffene ungünstige Voraussetzungen, kann dies psychosoziale Probleme begünstigen, die sich im Erwachsenenalter zu seelischen Erkrankungen entwickeln können. Wir nehmen nicht an, dass die Legasthenie automatisch eine seelische Behinderung ist, sondern sie kann durch ungünstige Bedingungen zu einem solchen Problem werden.