Ein Kommentar von Lars Michael Lehmann (Legastheniker und Legasthenie-Experte, Fachjournalist)
Heute möchte ich als betroffener Experte die letzte Dokumentation des ARTE-Berichts: „Legasthenie – Wir dachten immer, du bist dumm“, kommentieren. Diese Dokumentation ist eine der ausführlichsten TV-Sendungen zum Thema Legasthenie im deutschen Fernsehen und erreicht eine hohe Zuschauerzahl.
Die Sendung hat viele wissenschaftliche Fakten präsentiert, die in der Fachwelt Konsens sind, insbesondere dass Legasthenie eine erbliche Schwäche ist und mit der neurologischen Verarbeitung der Lautsprache, kindlicher Entwicklung, Sprachstörungen sowie mit der sozialen Umwelt in Zusammenhang steht. Leider wurde der Aspekt der sozialen Umwelt in Familie und schulischem Lernumfeld, der die Ursachen einer Legasthenie begünstigen kann, nur kurz behandelt. Es fehlte die Erörterung, dass es unterschiedliche Schwächen im Lesen und Schreiben gibt, die beispielsweise nicht erblich sind oder soziale bzw. lernmethodische Ursachen haben können.
Fachlich gesehen ist die Doku wissenschaftlich einseitig und betrachtet das Thema nur aus dem medizinisch-psychologischen Blickwinkel. Die Pädagogik, die soziologische und sprachwissenschaftliche Sicht wurden fast gar nicht berücksichtigt, was die Sendung sehr einseitig macht.
Die Beispiele von Betroffenen wie Daniel Britton, Bodo Ramelow und den Kindern sind gut dargestellt worden. Hier fehlte jedoch der Einblick in ihre soziale Umwelt, in welchen Familien sie aufwuchsen und wie die Schulbildung und das Elternhaus aussahen. Nur die Sicht eines „Krankheitsbildes“ stellt uns Betroffene nicht in die richtige Perspektive. Die Biografien der Betroffenen sind, wie ich in meiner langjährigen Tätigkeit festgestellt habe, deutlich vielfältiger.
Außerdem ist bekannt, dass die soziale Umwelt seelische Erkrankungen wie Depressionen und Ängste begünstigen kann. Diese werden von der sozialen Umwelt der Familie und Schule beeinflusst. So ähnlich drückte es der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Gerd Schulte-Körne in dieser Doku aus, eine Sicht, die ich teile. Daher sollte sich die Fachwelt zusätzlich mit den sozialen Ursachen befassen, nicht nur mit den medizinischen. Diese sind zwar nicht unwichtig und sind ein Teil der Ursachen, jedoch sollte die pädagogische Disziplin stärker in den Fokus der Aufklärung gerückt werden.
Die Dominanz nur einer Disziplin in der Aufklärung ist für eine hilfreiche Aufklärung für uns Betroffene nicht ausreichend. Wir als Betroffene sollten mit definieren, was Legasthenie ist. Aus meiner sehr schmerzlichen Biografie als Legastheniker und der Arbeit mit Betroffenen heraus betrachtet, ist die Klassifizierung von Legasthenie als Störbild oder gar Krankheitsbild sehr strittig. Wir Betroffenen sind zu unterschiedlich, und es gibt Fälle, in denen aufgrund ungünstiger Umweltbedingungen aus einer Legasthenie eine chronische seelische Behinderung entstehen kann. Diese sollte präventiv vermieden werden, indem man Legasthenie nicht als Krankheit klassifiziert. Legasthenie ist eine Schwäche, mit der man heutzutage gut leben kann. Ein Krankheitsbild ist aus der Perspektive der Menschenwürde strittig und diskriminierend, weshalb es nachvollziehbar ist, dass viele Pädagogen und Betroffene ein solches Bild ablehnen.
Leider hat der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. als Selbsthilfeinitiative in den letzten 50 Jahren wenig dazugelernt. Nicht alle Betroffenen teilen diese Sicht auf die Legasthenie. Es ist sehr schade, dass unsere öffentlich finanzierten Medien nicht differenzierter berichten können. Der Großteil der Protagonisten in der Dokumentation gehört zum BVL, weshalb man die Wissenschaftlichkeit durchaus hinterfragen darf, wenn nur Verbandleute für eine Doku herangezogen werden.