In diesem Praxisaufsatz möchten wir klären, wie es möglich ist, dass kombiniert Betroffene (Legasthenie und Dyskalkulie) eine Ausbildung finden können. Verschiedene Faktoren spielen dabei eine Rolle, ob eine Ausbildung gelingen oder auch misslingen kann. Dazu wollen wir Ihnen ein Fallbeispiel aus der Praxis präsentieren, wie es gelingen kann, trotz dieser Lernprobleme in eine Ausbildung zu kommen.
Wir berichten über eine 18-jährige Schülerin. Sie konnte in unserer Begutachtung eine Legasthenie/Dyskalkulie nachweisen. Schon in der Grundschulzeit gab es in der Schule verschiedene Tests, bei denen eine LRS festgestellt und eine Empfehlung für eine LRS-Klasse gegeben wurde. Die Mutter war damals alleinerziehend und die Schwierigkeiten schienen schon mehrfach in der Familie aufgetreten zu sein. Sie lehnte damals den Besuch einer LRS-Sonderklasse ab, weil sie ihre Tochter nicht separieren wollte. Doch sie konnte ihr keine zusätzliche Förderung oder Therapie finanzieren, da sie als Alleinerziehende nur über ein geringes Einkommen verfügte und der Vater keinen Unterhalt zahlte.
Infolge dieser Umstände wurden die Probleme der Schülerin bis zum Erwachsenenalter nicht bewältigt. Ihr fielen schon immer die Fächer Mathematik und Deutsch schwer. Mit großer Mühe erlangte sie einen mittleren Abschluss. Zusätzlich zu ihren Lernschwierigkeiten erlebte sie in der Schule Mobbing, sie hielt sich für dumm. Ihr geringes Selbstvertrauen wirkte bis in die Berufsausbildung nach. Sie litt unter depressiven Verstimmungen, zeigte Schulangst und traute sich bei neuen Herausforderungen wenig zu.
Nach ihrem Schulbesuch wählte sie einen medizinischen Assistenzberuf, für den sie sich praktisch sehr gut eignete, aber aufgrund der schulischen Schwierigkeiten scheiterte sie in der theoretischen Ausbildung. Sie brach die Ausbildung nach einem Jahr ab. Bei der Berufsberatung der Agentur für Arbeit wurde festgestellt, dass sie nur unterdurchschnittliche schulische Leistungen schafft und für einfache Handwerksberufe geeignet sei. Dafür hatte sie kein Interesse. Diese Situation brachte sie unter starken emotionalen Druck, sie war nicht weit davon entfernt, sich in psychologische Betreuung begeben zu müssen.
Wir erstellten eine unabhängige Einschätzung ihrer Lernschwierigkeiten, ihrer Persönlichkeit und beruflichen Neigungen. Dabei haben sich die Lernschwierigkeiten erneut bestätigt. Aufgrund der Vorgeschichte hatte sie größere Schwierigkeiten, sich auf neue Situationen einzustellen. Unserer Einschätzung nach eignet sie sich für Berufe im Verkauf sowie für technische wie auch praktische Berufe. In diesen Bereichen machte sie verschiedene Praktika. Sie sammelte Erfahrungen und wurde damit wesentlich selbständiger und selbstbewusster, wobei wir sie mit unserem Coaching begleiteten. Sie bearbeitete mit unserer Hilfe ihre Bewerbungshemmnisse und erhielt eine speziell auf Auszubildende ausgerichtete Legasthenie/Dyskalkulie-Einzelförderung. Schritt für Schritt entwickelte sie sich weiter.
Sie hatte sich aufgrund ihrer Erfahrungen für den Kaufmann im Einzelhandel entschieden. Eine Ausbildung traute sie sich wegen ihrer Vorgeschichte noch nicht zu. Sie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig ausbildungsreif. Durch die weitere Berufsberatung der Agentur für Arbeit ergab es sich, dass ihr ein Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) empfohlen wurde. Damit bekam sie die Chance, die schulischen Defizite in Deutsch und Mathematik auszugleichen und eine bessere Ausgangsposition für die passende Ausbildungsstelle zu erhalten.
Berufsgrundbildungsjahre sind dazu da, um Jugendliche mit Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife, die noch keine Berufsausbildung erhalten, auf diese Ausbildung vorzubereiten. Das kann für diese Jugendlichen eine gute Alternative sein. In Sachsen gibt es dafür mehrere Berufsbildungszentren mit verschiedenen beruflichen Schwerpunkten. An diesen Zentren hatte sie sich beworben und konnte sich damals die Schule aussuchen.
Die Schülerin nutzte diese Chance und kam zusätzlich zu uns in die Einzelförderung und ins Coaching. Sie konnte sich in der Rechtschreibung und im Lesen stetig verbessern, was sich dann auch bei ihren schulischen Leistungen bemerkbar machte. Die Berufsschule gewährte ihr einen Nachteilsausgleich und erkannte ihre Legasthenie an.
Während dieser Zeit hatte sie auch Tiefpunkte, an denen sie an ihrer Wahl zweifelte. Aber diese konnte sie durch ihre gute Motivation und die Ermutigung unsererseits bewältigen. So entwickelte sie sich zur Klassenbesten. Ihr Vorteil war dabei, dass sie eine der ältesten Schülerinnen mit Ausbildungserfahrungen war. Sie durchlief ein paar Praktika im Einzelhandel und entschloss sich in diesem Bereich zu bewerben.
Es war mit Sicherheit eine große Herausforderung für sie, obwohl sie ein gutes Zwischenzeugnis vorweisen konnte. Sie war auf nur wenige Stellen fixiert und besaß wenig Offenheit für andere Richtungen im gewählten Berufszweig. Der Einzelhandel ist ein sehr vielfältiger Bereich. Obwohl wir aus unserer Testung wussten, dass die Schülerin wenig offen für neue Erfahrungen war, konnten wir sie im Bewerbungsprozess dazu ermutigen, auch andere Ausbildungsplätze anzusteuern. Hier musste erst deutlich werden, dass es trotz der guten Ausgangslage für Jugendliche keine Garantie gibt, einen Ausbildungsplatz zu finden. Ihr wurde klar, dass es andere Schüler mit besseren schulischen Zeugnissen gab, die deshalb größere Chancen hatten. Sie musste verstehen lernen, dass sie sich diese Stelle erkämpfen muss.
Dazu brauchte sie den Mut, zu ihrer Legasthenie und Dyskalkulie zu stehen und dies möglichst schon in der Bewerbung. Die Praxis zeigt, dass die Arbeitgeber meistens daran interessiert sind, weshalb die Bewerber solch einen schulischen Werdegang haben. Kann man dies glaubhaft begründen, verbessern sich die Chancen auf ein Bewerbungsgespräch.
In alle Bewerbungen schrieb sie freiwillig hinein, dass sie während der gesamten Schulzeit Lernschwierigkeiten im Lesen und Schreiben hatte, aber an diesen Problemen arbeitet. So signalisierte sie den Arbeitgebern Motivation, Lern- und Leistungsbereitschaft.
Sie verschickte rund 15 Bewerbungen, und nach ein paar Wochen hatte sie vier Bewerbungsgespräche und drei Möglichkeiten für Probearbeiten. Sie konnte sich dann ihre Ausbildungsstelle aussuchen und wurde als Auszubildende „Kauffrau im Einzelhandel“ genommen. Sie bewies, dass sie sehr gut im Team arbeiten konnte und sie war in der Lage, Kunden im Verkauf gut zu beraten.
Wir sind gespannt, wie die weitere berufliche Entwicklung der Auszubildenden sein wird.