In der Fachwelt gibt es schon seit Jahrzehnten eine Diskussion darüber, dass eine Legasthenie in der Familie als spezielle Lese-Rechtschreib-Schwäche vorkommen kann. Warum diese Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb in den betroffenen Familien häufiger vorkommen können, ist bisher wissenschaftlich noch nicht gänzlich geklärt.
Übernommene Verhaltensweisen oder erbliche Veranlagung als Ursachen für Lese-Rechtschreib-Probleme
Es gibt einige Indikatoren, warum Betroffene ähnliche Schwierigkeiten haben wie einzelne andere Familienmitglieder (Vater oder Mutter, die Großeltern oder Onkels und Cousins und Cousinen). Bisher gibt es einige neurologische und genetische Annahmen, die eine legasthene Häufung begünstigen können. Diese werden als Auslöser für Probleme in der auditiven und visuellen Verarbeitung im Sprachzentrum, Arbeitsgedächtnis und Kurzzeitgedächtnis angenommen. Diese Probleme ähneln sich in den familiären Häufungen der Fälle, weshalb sich die Betroffenen im Vergleich zu Nicht-Legasthenikern mit dem Schriftspracherwerb schwerer tun. Zum anderen gibt es Verhaltensweisen, die von einer zur nächsten Generation übernommen werden, die Schwierigkeiten zusätzlich begünstigen können. Vermutlich spielt bei diesen Häufungen eine Wechselwirkung aus umweltlicher Nachahmung und erblicher Anlage eine größere Rolle. Bisher ist nicht geklärt, welche Dimension dieser beiden Faktoren größer sind. Vielleicht treten bei LRS nur umweltlich-institutionelle Nachahmungen auf und bei der Legasthenie sind es erbliche Ursachen, die dort eine dominantere Rolle spielen. Darüber weiß man aktuell noch zu wenig.
Transgenerationale Übertragungen und weniger neuronale Besonderheiten?
Aus der Praxis gibt es jedenfalls Hinweise, dass die familiäre Häufung zum einem an einer Veranlagung hierzu liegen muss. Dieser Punkt ist in der Fachwelt unstrittig. Andererseits gibt es familiäre Vorprägungen, dass zum Beispiel die Eltern den Kindern nur wenig Anreize bieten, um das Lesen und Schreiben zu erlernen. Hier gibt es sozusagen schwächere Vorbilder oder gar Bildungsarmut als umweltliche Nachahmung, die Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben hervorrufen und einen ungünstigen Verlauf derer begünstigen können. Könnte hier vielleicht eine transgenerationale Übertragung eine Rolle spielen? Und weniger neuronale Besonderheiten der Betroffenen? Man weiß es nicht. Wir kennen Betroffene, wo seelische Erkrankungen zusätzlich vorkommen. Aber die Probleme müssen nicht immer automatisch zu psychischen Schädigungen führen oder mit Traumata in Verbindung stehen.
Unterschiedliche familiäre Häufung und Bewältigung der Lernprobleme
Unsere Beobachtung in der Praxis zeigt immer wieder, dass es unterschiedliche Ursachen für die familiäre Häufung geben muss. In einigen Fällen werden die Schwierigkeiten direkt an die Kinder und Enkelkinder weitergegeben. Wahrscheinlich werden so ca. 50-60 Prozent aller Lese-Rechtschreib-Schwächen vererbt. Dann kann eine Generation einmal übersprungen werden, wobei der Opa eine Legasthenie hatte und das Enkelkind ähnliche Schwierigkeiten aufweisen kann. Vater und Mutter hatten dabei keine oder sehr geringe Probleme in der Schule. In dieser Gruppe verläuft die Bewältigung und Kompensierung der Probleme unterschiedlich, das liegt an der Schwere der Schwäche und der psycho-sozialen Gesundheit. Vermutlich spielen hier Probleme im Sozialgefüge eine geringere Rolle als bei Kindern mit LRS.
Fälle, bei denen die Umweltbedingungen wahrscheinlich überwiegen – sozial benachteiligte Familien sind auch hier benachteiligt
In anderen Fällen sehen wir familiäre Umweltbedingungen, bei denen ungünstige Verhaltensweisen und Erziehungsprobleme (unkontrollierter Medienkonsum, geringe familiäre Lernanreize zum Lesen und Schreiben, geringe Bildungsabschlüsse der Eltern, problembelastetes Sozialgefüge) eine Rolle spielen können und bei denen es keine erblichen Besonderheiten gibt. Diese Zusammenhänge werden bisher in der Fachwelt zu wenig diskutiert oder durch sozialpolitische Ignoranz vernachlässigt. Obwohl einige Studien eindeutige Hinweise dafür liefern, dass die sozialen Bedingungen beim Schriftspracherwerb besonders bei bildungsfernen Schichten eine größere Rolle spielen. Deshalb ist das Thema „LRS“ auch ein wichtiges soziales Thema. Denn es werden nur die Fachleute künftig ihren Arbeitsplatz erhalten oder wieder einen bekommen, wenn sie im Bereich des Lesens und Schreibens keine Schwierigkeiten haben.
Normale Intelligenz und neurologische Besonderheiten reichen als Ursache nicht aus
In unserer Forschung beobachten wir verschiedene Ursachen für eine familiäre Häufung dieser Lese-Rechtschreib-Probleme bei Betroffenen. Nur neuronale Besonderheiten und normale Intelligenz, wie es die klinische Psychologie annimmt, sind als Erklärung zu wenig, weil die Neurowissenschaft noch zu wenig über das menschliche Gehirn weiß. Ein bisher wenig betrachteter Aspekt sind die Umweltursachen, die als Wechselwirkung die Probleme zusätzlich verstärken oder dabei helfen, diese präventiv zu vermeiden. Hier braucht es mehr Differenziertheit.