In den zwölf Jahren der praktischen und wissenschaftlichen Arbeit mit erwachsenen Legasthenikern haben wir einige Fälle beobachten können, bei denen Betroffene eine Suchterkrankung zusätzlich zu ihrer Legasthenie entwickelten. Bis heute gibt es dazu keine wissenschaftlichen Studien. Wir können daher nur von unseren gesammelten Erfahrungen zum Thema Suchterkrankungen und Legasthenie berichten.
In unserer modernen Gesellschaft gibt es vielfältige Suchterkrankungen. Die Alkoholsucht ist wie in der allgemeinen Bevölkerung die am häufigsten zu beobachtende Suchtkrankheit bei Erwachsenen mit Legasthenie. Dann folgen Drogensucht und andere nicht-stoffliche Süchte, wie die Online-Sucht, die sich häufig als PC-Spielsucht äußert. Nach unserer Beobachtung treten die Süchte in dieser Rangfolge bei Legasthenikern auf. Als Ursachen können hier ein vielfaches Scheitern in der schulischen Entwicklung, die familiäre Veranlagung zu einer Suchterkrankung sowie der sozioökonomische Status eine Rolle spielen. Nicht wenige Betroffene haben depressive Erkrankungen, die mit Suchtmitteln gedämpft werden.
Da Suchtmittel um Teil als Stimmungsaufheller bei depressiven Verstimmungen und anderen emotionalen Tiefs eingesetzt werden, kann man von einer recht hohen Dunkelziffer bei Erwachsenen mit Legasthenie ausgehen, die eine Sucht entwickelt haben. Dies kann man als seelische Reaktion auf emotionale Belastungen verstehen. Das häufige schulische oder spätere berufliche Scheitern begünstigt Probleme in der psychischen Selbstregulationsfähigkeit und ist ein verstärkender Stressor. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass die Betroffenen mit Versagensängsten und Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen haben. Einerseits könnten diese Komplexe in der frühen kindlichen Entwicklung als Folge von vorgeburtlichem Stress in der Schwangerschaft der Mutter erzeugt worden sein, andererseits können sie auch in der Pubertät der Jugendlichen auftreten. Daraus können Schwierigkeiten in der emotionalen Selbstregulation entstehen. Haben Legastheniker in diesen Bereichen in ihrer Kindheit und Jugend negative Erfahrungen gesammelt, wirkt sich das häufig ungünstig auf das Lernen, die Konzentration und die Lese-Rechtschreib-Fähigkeiten aus. Diese Zusammenhänge könnten nach unseren Erkenntnissen eine Neigung zu einer Suchterkrankung bei legasthenen Erwachsenen erklären.
Die Kombination aus Legasthenie und Suchterkrankung kann im Laufe des Erwachsenenalters zu schwierigen Problemlagen führen. Betroffene können daraus eine chronische seelische Behinderung entwickeln. Dabei stellt die Legasthenie von Natur aus keine Krankheit oder Behinderung dar. Wenn Legastheniker im späteren Leben eine schwere psychische Erkrankung entwickeln, liegt das nicht an der Legasthenie. Soziale Umweltfaktoren wie ungünstige familiäre Bedingungen oder schulische Lernvoraussetzungen (Mobbing, Lernsysteme) begünstigen eine mögliche seelische Behinderung und Suchterkrankungen. Hier wird deutlich, wie wichtig eine frühe Diagnose und lerntherapeutische Förderung im Kindesalter als Prävention ist. Erhalten Erwachsene eine nachhaltige Unterstützung zur Kompensation ihrer Legasthenie, bestehen gute Chancen keine seelischen Behinderungen im Erwachsenenalter davonzutragen.
Die Dunkelziffer der Erwachsenen mit Legasthenie und einer Suchterkrankung scheint verschiedenen Schätzungen nach recht hoch zu sein. Hierzu benötigen wir noch genauere Forschungen, die sich mit den sozialen Umweltbedingungen der Betroffenen auseinandersetzt. Erst wenn wir die einzelnen Biografien verstehen, werden wir die Zusammenhänge besser einordnen können, weshalb manche Erwachsene zu seelisch Behinderten werden, andere aber nicht. Das ist bis heute noch ein Rätsel für die Wissenschaft. Denn nicht alle Legastheniker entwickeln eine chronische seelische Krankheit oder in schlimmen Fällen eine Behinderung. Darum ist das Bemühen der Selbsthilfeverbände, die Legasthenie in jedem Fall als ein psychisches Störbild anzusehen, kritisch zu hinterfragen. Wenn wir die Entwicklung von seelischen Krankheiten und Legasthenie besser verstehen wollen, müssen wir die Biografien der Betroffenen analysieren und verstehen. Eine medizinische Pauschalisierung der Legasthenie als Behinderung oder Krankheit bringt den Betroffenen keine Bewältigung ihrer Schwierigkeiten, sondern nur eine Begrenzung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten.