Über das Thema Legasthenie im asiatischen Raum ist bisher nur wenig bekannt. Es ist aber davon auszugehen, dass in jeder Kultur spezielle Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben auftreten. Je nach Kulturkreis sind Wissen und Aufklärung darüber sehr unterschiedlich.
Erst neulich haben wir einen Legastheniker aus dem asiatischen Raum kennengelernt. Er ist in Deutschland aufgewachsen und entstammt einer vietnamesischen Familie. Sein Bruder besuchte eine LRS-Klasse, da bei ihm während der Schulzeit eine Lese-Rechtschreib-Schwäche festgestellt wurde. Der Besuch dieser Klasse wirkte sich im weiteren schulischen Verlauf aber nur wenig positiv aus. Beim älteren Bruder wurden die Probleme ignoriert und geleugnet. Er ist recht intelligent, deshalb meinten die Eltern, er könne nicht von einer Legasthenie betroffen sein. Intelligente Menschen hätten keine Legasthenie, deshalb müsse er geistig behindert sein. In der asiatischen Kultur mit ihrem stark leistungsgeprägten Denken sind solche Schwierigkeiten ein Dilemma, über das nicht geredet werden darf. Behinderte gelten in diesem Kulturraum als wertlos.
Der Vietnamese quälte sich mühsam durch seine Schulzeit. Aufgrund seiner guten Intelligenz erhielt er keine Hilfe seitens seiner Eltern. Diese gingen davon aus, dass viel Übung zur Überwindung seiner Schwierigkeiten ausreichen würde. Er entwickelte Depressionen und ein geringes Selbstwertgefühl. Mit 18 Jahren zog er aus, um auf eigenen Beinen zu stehen. Mit viel Mühe und manchen Umwegen schaffte er das berufliche Gymnasium. Seit mehr als 6 Jahren studiert er nun im IT-Bereich an einer Universität. Bisher hat er erst die Hälfte seines Studiums geschafft und benötigt weitere Hilfe. Mit einer Psychotherapie und einem speziellen Coaching will er seine Schwierigkeiten bewältigen, was keine leichte Aufgabe für ihn sein wird.
Er hat grundsätzliche Schwierigkeiten beim Lernen von Sprachen. Seine Muttersprache Vietnamesisch kann er ebenso die deutsche Sprache normal sprechen und verstehen. Aber das Lesen und Schreiben fällt ihm in beiden Sprachen gleichermaßen schwer. Das liegt nicht an der bilingualen Erziehung, sondern an seiner Legasthenie.
Wir sind sehr gespannt, wie sich unser Schützling entwickeln wird. Die ersten Hürden hat er überwunden, indem er Hilfe suchte und sich damit auf den richtigen Weg begab. Diese Probleme kommen in seiner Familie häufiger vor, aber es wird nicht darüber gesprochen, weil es ein schlimmes Stigma ist. An seinem Fall wird deutlich, was für eine Last das bis ins Erwachsenenalter hinein sein kann. Wahrscheinlich ist es im asiatischen Kulturraum deutlich schwieriger mit diesen Problemen zu leben als in unserer deutschsprachigen Welt. Mich erinnern diese Herausforderungen an das DDR-System, welches Legastheniker häufig als Behinderte ausgrenzte. Heutzutage sind wir etwas humaner geworden, auch wenn LRS-Klassen an diese überwunden geglaubte Zeit erinnern. Vielen Asiaten ergeht es nicht anders, wenn die Einschätzungen unseres Schützlings zutreffen.
Für uns ist es immer wieder spannend, legasthene Menschen aus anderen Kulturkreisen kennenzulernen und dabei große Unterschiede im Umgang mit der Schwäche festzustellen.