15 lasub
fachgespräch mit dem schulpsychologischen dienst (lasub) 2

Von Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte und Fachjournalist

Hintergrund

Am 11. Februar 2025 fand ein Austausch mit dem Schulpsychologischen Dienst des Sächsischen Landesamtes für Schule und Bildung (LaSuB) statt. Ich wurde als unabhängiger Experte für Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) und Legasthenie eingeladen – eine Rolle, die die Behörde seit der Gründung meines Instituts im Jahr 2010 weitgehend ignorierte. Ein zuvor geplantes Treffen mit anderen Fachleuten im Jahr 2023 war aufgrund von Urlaubsüberschneidungen gescheitert, zudem blieb das damalige Gesprächsziel unklar. Ein erstes Gespräch am 21.1.2025 wurde wenigen einer Krisensituation der Behörde auf den 11.2.2025 verschoben. Die Mitarbeiter der LaSuB entschuldigten sich dafür mehrfach.

Ziel des Gesprächs war es, Einblick in die Organisation der LaSuB-Arbeit im Bereich der Teilleistungsschwächen zu gewinnen. Nach 15 Jahren ohne Austauschwillen durch die Behörde wollte ich als Experte ein fachliches Gespräch auf Augenhöhe führen – unabhängig von bestehenden fachlichen Meinungsverschiedenheiten. Über den Verlauf und meine Experteneinschätzung folgt im folgenden Bericht.

Strukturelle Defizite im sächsischen LRS-System

  1. Personalmangel
  • Nur 21 Schulpsychologen betreuen 500 Schulen in Dresden, Meißen und der Sächsischen Schweiz-Osterzgebirge – eine massive Überlastung des schulpsychologischen Systems.
  • Auf einen Schulpsychologen kommen mehr als ca. 6000 Schüler, anstatt der vom BDP-Verband empfohlenen 1:1000. Tatsächlich dürfte die Zahl pro Schulpsychologen noch höher liegen, was die langen Reaktionszeiten der Behörde erklärt.
  • Folgen: Monatelange Wartezeiten für Familien, überlastete Fachkräfte und eine unzureichende Betreuung, die nicht nur den Bereich LRS betrifft, sondern das gesamte schulpsychologische Angebot der LaSuB beeinträchtigt.
  1. Veraltete LRS-Diagnostik
  • LRS-Screening ist mit der Bilderliste (DBL) in der 2. Klasse 1. Halbjahr zu ungenau in der Gruppentestung, warum viele Kinder nicht erkannt werden. Dies liegt u.a. am soziokulturellen Status, der kindlichen Entwicklung, Mehrsprachigkeit, höhere Intelligenz, warum Kinder nicht auffallen. Das Lese-Rechtschreib-Schwächen gehäufter in der Familie auftreten wird nicht berücksichtigt. Deswegen gibt es mit diesem Screening viele Kinder, die nicht auffallen. Schule sind mit der Vordiagnostik häufig überfordert und es gibt zu wenig Personal, was sich mit der LRS-Problematik in der Grundschulzeit auskennt.
  • ICD-10/11 als alleinige Grundlage: Die WHO-Leitlinien mit dem umstrittenen IQ-Diskrepanzkriterium basieren primär auf einer politischen Entscheidung und ermöglichen keine präzise Diagnostik, das Kriterium schließt deswegen zu viele Kinder aus, die dringend Förderung benötigen. Eine medizinische Diagnostik im Schulwesen ist strittig.
  • Gruppentests an LRS-Stützpunkten: Diese Tests berücksichtigen individuelle Bedarfe nicht, wodurch viele Kinder mit LRS unerkannt bleiben. Eine differenzierte Einzelfallanalyse wäre erforderlich, scheitert aber am Personalmangel der LRS-Stützpunkte.
  • Externe Gutachten: Wissenschaftlich fundierte Diagnosen unabhängiger Fachstellen (§35a Sächs. SchulG) werden nicht gleichwertig anerkannt – obwohl externe Fachleute das Recht haben, Gutachten zu erstellen.
  1. LRS-Klassen: Theorie vs. Praxis
  • Fehlende Evidenz: Es gibt keine wissenschaftlichen Belege für die langfristige Wirksamkeit von LRS-Klassen. Nur ein geringer Teil der betroffenen Kinder profitiert.
  • Druck auf Eltern: Offiziell ist die Teilnahme freiwillig, doch viele Eltern berichten von massivem Druck seitens der Schulen. Da Behörden die LRS-Klassen füllen müssen.
  • Widerspruch zur Inklusion: Die Separierung widerspricht dem Prinzip der individuellen Förderung im regulären Unterricht und ist ethisch umstritten.
  • Mangelnde Reformbereitschaft: Trotz wiederholter Kritik von Experten und Medien (z. B. MDR Radio) bleibt das Konzept unverändert.

Verlauf des Fachgesprächs

  • Teilnehmer: Drei Schulpsychologen der LaSuB.
  • Kernkonflikt: Standardisierte Testverfahren der Behörde vs. kombinierte (qualitative/quantitative) Methoden externer Experten.
  • Kritikpunkt: Die Behauptung des LaSuB, externe Gutachten seien „nur qualitativ“, ist wissenschaftlich nicht haltbar.

Zitat aus dem Gespräch:
„Wir setzen auf bewährte Standards, um Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Lerntherapeuten könnten keine quantitativen Testungen durchführen, da ihr Schwerpunkt auf der qualitativen Ebene liege. Eine fundierte LRS-Diagnose könne nur durch das LaSuB gestellt werden, da diese sich an der ICD-10/11 der WHO orientiere.“

Langfristige Kritik und Reformbedarf

  • Ignoranz gegenüber externer Expertise: Seit über einem Jahrzehnt werden unabhängige Fachleute marginalisiert.
  • LRS-Klassen als Symbol des Stillstands: Trotz zahlreicher Kritikpunkte bleibt das Konzept unverändert.
  • Fehlende Reformen: Weder Maßnahmen zur Entlastung der Schulpsychologen noch zur Modernisierung der Diagnostik oder zur Zusammenarbeit mit externen Fachleuten sind erkennbar.

Handlungsempfehlungen

  1. Personelle Aufstockung der Schulpsychologen zur Verkürzung der Wartezeiten.
  2. Diagnostik-Reform: Einbindung externer Experten sowie Einzeltestungen, die die individuelle Entwicklungsgeschichte berücksichtigen.
  3. Transparenzoffensive: Klare Kommunikation mit Eltern über Förderoptionen – ohne Druck.
  4. Evaluation der LRS-Klassen: Unabhängige Studien zur Wirksamkeit dieser Maßnahme sind erforderlich und müssen eine nachhaltige Entwicklung der Betroffenen bis in das Erwachsenenalter nachweisen.

 

Fazit

Das Gespräch markierte einen ersten Dialogschritt nach 14 Jahren. Die Mitarbeiter des LaSuB waren freundlich, aber distanziert, wie es bei Behörden üblich ist:

  • Bestätigt wurde, dass nicht alle Kinder durch die aktuellen LRS-Testungen erkannt werden – eine erhebliche Dunkelziffer bleibt unberücksichtigt.
  • Besonders in sozialen Brennpunkten (z. B. Dresden-Prohlis, Dresden-Gorbitz) stellt die Separierung in LRS-Klassen ein zusätzliches Problem dar.
  • Trotz wiederholter Kritik bekräftigte das LaSuB, dass LRS-Klassen beibehalten werden.

Externe Fachgutachten bleiben ein Streitpunkt: Die Behörde kann sie ignorieren, darf aber deren Erstellung nicht untersagen (Art 12 Berufsrecht GG). Die Aussage, externe Gutachten entsprächen nicht wissenschaftlichen Standards, ist unbegründet – Fachleute besitzen die notwendige Qualifikation.

Meine Einschätzung: Ohne personelle und strukturelle Reformen wird sich die Lage in den kommenden Jahren weiter verschlechtern. Die Überforderung der Schulpsychologen, der Mangel an wissenschaftlich fundierten Diagnosen und die unzureichende Zusammenarbeit mit externen Fachleuten stellen erhebliche Probleme dar. Dies wird die soziale Ungleichheit in der Bildung weiter verschärfen.

Literatur:

Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, Sektion Schulpsychologie (2022). Versorgungszahlen in Deutschland 2022. Durchschnittliche Relation von Schulpsychologen zu Schülern: 1:5400. Vergleich mit internationalen Standards und Forderung nach mehr Personal https://www.bdp-verband.de/…/2022-Ausstellung-100JahreSchulpsychologie.pdf

BVL – Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (2018). Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Evidenzbasierte Leitlinien für Diagnostik und Förderung von LRS-Betroffenen, unter Berücksichtigung von psychometrischen Tests und der sozialen Entwicklung. LRS-Diagnostik ist die Aufgabe u.a. auch von externen Fachleute. https://www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/Leitlinien/LF_Leitlinie.pdf

National Institutes of Health (NIH) (2023). NIH-funded study finds dyslexia not tied to IQ. Die Studie zeigt, dass Kinder mit Dyslexie unabhängig von ihrem IQ ähnliche Schwierigkeiten in der phonologischen Verarbeitung aufweisen und das Diskrepanzmodell daher keine valide Grundlage für Diagnosen ist: https://www.nih.gov/news-events/news-releases/nih-funded-study-finds-dyslexia-not-tied-iq

Fletcher, J., & Miciak, J. (2016). Time to Revisit Reading Discrepancies in Twice Exceptional StudentsInternational Dyslexia Association. Diese Arbeit argumentiert, dass IQ-Tests nicht notwendig sind, um Dyslexie zu diagnostizieren, da phonologische Defizite unabhängig vom IQ auftreten: https://dyslexiaida.org/time-to-revisit-reading-discrepancies-in-twice-exceptional-students/

FR Vellutino 1, DM Scanlon , GR Lyon (2000) Unterscheidung zwischen schwer förderbaren und leicht förderbaren Leseschwächen: weitere Belege gegen die Definition der Leseschwäche als IQ-Leistungs-Diskrepanz: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/15505962/

Dyslexia Association of India (2025). Decoupling IQ from Dyslexia. Der Bericht kritisiert die Abhängigkeit von IQ-Tests bei der Diagnose von Dyslexie und fordert umfassendere Bewertungsmethoden: https://dyslexiaindia.org.in/iq-dyslexia.html

Restori, A. F., Katz, G. S., & Lee, H. B. (2009). A Critique of the IQ / Achievement Discrepancy Model for Identifying Specific Learning DisabilitiesEurope’s Journal of Psychology. Der Artikel beschreibt die Unzuverlässigkeit des Modells und hebt hervor, dass viele Kinder mit akademischen Problemen aufgrund von IQ-Grenzwerten keine Förderung erhalten: https://citeseerx.ist.psu.edu/document?repid=rep1&type=pdf&doi=9187ef18209ff451d744bbb372f6afd655e03baa & https://ejop.psychopen.eu/index.php/ejop/article/view/244

NeuroHealth Arlington Heights. (2025). Standardized Tests and Learning Disabilities: Test Limits & Challenges. Abgerufen am 17. Februar 2025, von https://neurohealthah.com/blog/standardized-tests-with-disabilities/

MDR 1 Radio Sachsen. (2015). Expertenrat: Legasthenie – wie damit umgehen? Interview mit Lars Michael Lehmann, Legasthenie-Experte & Fachjournalist. Hier wurden schon damals LRS-Klassen, als unzureichend kritisiert. Abgerufen am 17. Februar 2025, von https://www.youtube.com/watch?v=BPn5gcDJRKs

Legasthenie-Coaching-Podcast. Lehmann, Lars Michael (2024). #11: LRS-Klassen – Pro und Contra. Abgerufen am 17. Februar 2025, von https://legasthenie-coaching-podcast-offiziell.podigee.io/11-lrs-klassen-pro-und-contrag

Lehmann, Lars Michael (2025). Legasthenie-Coaching-Podcast: Fachgespräch mit LaSUB Dresden. Abgerufen am 17. Februar 2025, von https://www.deezer.com/de/show/1000614222