Wir beobachten häufig, dass sich Eltern mit der Problematik Lese-Rechtschreib-Schwäche schwertun. Sie sind zu wenig über die Schwierigkeiten ihrer Kinder aufgeklärt oder es wird zu spät darauf reagiert. Erst wenn die Lese-Rechtschreib-Probleme in der Schule festgestellt werden, beschäftigt man sich damit. Aber es sollte schon möglichst früh darauf reagiert werden, wenn die Kinder im ersten Schuljahr Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben. Denn frühe Hilfe ist die beste Prävention, damit die Kinder keine seelischen Schäden davontragen müssen.
Hatte ein Elternteil in seiner Schulzeit Probleme mit dem Lesen und Schreiben, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass auch die Kinder ähnliche Schwierigkeiten haben. Unsere Statistik zeigt eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent dafür auf, andere Studien gehen von höheren Zahlen aus. Der Ansatz, dass Kinder erst im 1. Halbjahr der 2. Klasse auf LRS getestet werden, greift unserer Meinung nach zu spät. Eine frühere Förderung wäre als Prävention vor seelischen Schäden wichtig und sinnvoll, wenn es bereits bei den Eltern ähnliche Schwierigkeiten gab. Hierfür fehlt leider häufig das Verständnis bei den Eltern und Lehrern. Von einem früheren Förderansatz sind wir in Deutschland weit entfernt. Erst wenn die Kinder auffällig werden, wird darauf reagiert. Dies kann ein Grund dafür sein, dass einige Kinder zusätzliche psychoemotionale Probleme entwickeln.
In Deutschland wird man schnell stigmatisiert, wenn es Probleme beim Lesen und Schreiben gibt. In unserer Leistungsgesellschaft gehören diese Fertigkeiten einfach dazu, die Kinder müssen reibungslos funktionieren, um den Ansprüchen in der Schule und später in der Berufswelt zu genügen. Das erzeugt zusätzlichen Druck auf die Eltern und ihre Kinder. Eltern können sich unterschiedlich gut in die Lage der Kinder hineinversetzen. Daraus ergeben sich die unterschiedlichen Reaktionen wie Mitgefühl, übertriebene Fürsorge oder Ignoranz. Dabei spielen auch die verschiedenen Erziehungsstile eine wichtige Rolle. Ein harter autoritärer oder antiautoritärer Erziehungsstil kann den Kindern gleichermaßen seelischen Schaden zufügen. Ein liebevoller und zielgerichteter Erziehungsstil, der eine gesunde psychoemotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern entwickelt und fördert, ist hilfreich für eine gute resiliente Entwicklung. In der Erziehung von LRS-Kindern werden häufig Fehler gemacht, weil die Eltern mit diesen Problemen überfordert und unsicher sind. Hier sollte eine Erziehungsberatung genutzt werden, die sich mit den Lernproblemen der Kinder auskennt.
Kinder mit einer LRS kommen nicht selten aus problembelasteten Elternhäusern oder aus Familien, wo die Eltern ähnliche Schwierigkeiten hatten, die sie nicht bewältigen konnten. Dies erschwert oft die Bewältigung der Lernprobleme bei den Kindern. Der soziale Aspekt sollte bei einer Lese-Rechtschreib-Problematik nicht unterschätzt werden. Gibt es in der Familie weniger soziale Probleme, steigt die Chance einer frühen Bewältigung der Lese-Rechtschreib-Probleme. Denn ein stabiles soziales Umfeld bringt den Kindern optimale Bedingungen. Das hat auch mit dem sozial-ökonomischen Kontext der Familien zu tun, denn sozial schwächere Betroffene sind in unserem Bildungssystem benachteiligt. Das erkennt man auch auf unserem Fachgebiet. Wahrscheinlich gibt es einen Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung und psychosozialer Stabilität bei diesen Kindern. Deshalb sollten diese Kinder in der Grundschulzeit nicht in einer LRS-Klasse separiert werden, denn diese Exklusion kann die sozialen Schwierigkeiten exponentiell verstärken.