Eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung fördert allgemein eine gute Bindungsfähigkeit und psycho-emotionale Entwicklung bei Kindern. Besonders bei Kindern mit Lernschwächen wie Legasthenie oder LRS ist sie ein wichtiger Schutzfaktor für eine stabile Entwicklung in der Schulzeit, die sich bis in das Erwachsenenalter auswirkt.
In der frühen Kindheit werden wichtige Grundlagen gelegt, damit sich eine resiliente Persönlichkeit entwickeln kann. Psychologie und Neurowissenschaft haben dafür wichtige Indikatoren erforscht, die nach unseren Beobachtungen auch für die Entwicklung bei Lese-Rechtschreib-Schwächen und Rechenschwächen eine Rolle spielen können. Außerdem gibt es individuelle Unterschiede, neuronale Grundlagen und protektive Faktoren für die Entwicklung emotionaler Fertigkeiten.
In der heutigen Forschung gewinnt der Zusammenhang von Stresserfahrungen in der frühen Kindheit und der Entwicklung emotionaler Fähigkeiten, die wichtig für allgemeine soziale Fähigkeiten sind, immer mehr an Bedeutung. Die Mehrzahl solcher sozialen Fertigkeiten entwickelt sich im Laufe der Kindheit und Jugend überwiegend aus zwischenmenschlichen Beziehungen und ist daher besonders anfällig für den Einfluss früher Stresserfahrungen. Zu diesen Stressoren gehören neben körperlicher oder sexueller Gewalt auch das Erleben von emotionaler Vernachlässigung oder emotionaler Gewalt durch primäre Bezugspersonen. Wiederkehrende Erfahrungen dieser Art übersteigen häufig die Bewältigungskompentenzen eines Kindes und führen somit zu einem andauernden Stresserleben, dass sich bis ins Erwachsenenalter hinein ungünstig auf die gesundheitliche Entwicklung auswirken kann.
Diese frühen Erfahrungen können sich so ungünstig auswirken, dass Schüler während ihrer kindlichen Entwicklung seelische Schäden davontragen können. Betroffene Schüler erleben von ihren Eltern beispielsweise geringe Annahme und Wertschätzung, weil sie sie mit leistungsstärkeren Kindern in der Schule vergleichen. Kinder erleben diese Reaktionen der Eltern als Abwertung und können dadurch Verhaltensstörungen entwickeln. Diese Stresserfahrungen können bis in das Erwachsenenalter hinein zu depressiven Störungen führen und sich auf die emotionale Entwicklung nachhaltig ungünstig auswirken.
Versuchen wir an einem Beispiel zu zeigen, was wir in der praktischen Arbeit mit Kindern mit Legasthenie oder LRS beobachten.
In der ersten Schulklasse hat ein Kind gravierende Schwierigkeiten beim Erlernen der Schriftsprache, dies wird aber nicht früh genug erkannt. Das Kind wird in der Klasse dafür gehänselt, dass es sehr stockend liest und sich mit den ersten Schreibversuchen schwertut. Die Eltern fühlen sich damit überfordert und es kommt zu Konflikten in der Eltern-Kind-Beziehung, weil das Kind scheinbar faul oder nicht intelligent genug ist. Unbewusst werden dem Kind Vorhaltungen gemacht, was das Kind in seiner persönlichen Entwicklung als Person abwertet. Das löst im Kind Trotzreaktionen und häufigen Lernunwillen aus, passiert das öfters, lösen diese Umweltsituationen Stress aus. Die Situation verschärft sich, wenn das Kind keine frühe Hilfe erhält. Die Probleme werden dann erst im 1. Halbjahr der 2. Klasse erkannt. Es kommt zu einem zweitägigen LRS-Feststellungsverfahren. Endet dieses mit einem positiven Befund („LRS“), wird dem Kind in Sachsen und Thüringen eine Sonderschule in Form einer LRS-Klasse empfohlen. Das Kind soll aus dem gewohnten Lernumfeld herausgenommen werden, weil die bisherige Schule mit dem LRS-Kind überfordert ist. Kinder können sehr sensibel sein und erleben eine überforderte Umwelt als zusätzlichen Stressor. Dem Kind wird signalisiert, das mit ihm etwas nicht stimmen muss und es erlebt dadurch möglicherweise eine Abwertung seines Selbst. Solche oder ähnliche Erfahrungen können für das Kind emotionalen Stress bedeuten, der hier durch institutionelle und elterliche emotionale Gewalt ausgelöst wird. Die Reaktionen der Kinder können individuell sein, weil Kinder mit Lese-Rechtschreib-Problemen solche Erfahrungen unterschiedlich bewältigen. Im hier dargestellten Fall besteht ein erhöhtes Risiko, dass das Kind durch diese Erfahrungen seelische Schäden davonträgt.
Die Ursachen der Folgeschädigungen sind darum nicht in der Lese-Rechtschreib-Schwäche und beim Kind selbst zu suchen. Sondern die Reaktionen der Umwelt (Eltern-Kind-Beziehung und schulisches Umfeld) können sich ungünstig auf Kinder mit Legasthenie auswirken, insbesondere wenn die Lernprobleme in der Familie gehäufter vorkamen und von den Eltern nicht bewältigt wurden. Schlechte Umweltbedingungen begünstigen zusätzlich den Erwerb von Lese-Rechtschreib-Schwächen.
Das Wissen aus der Neurowissenschaft und Psychologie ist auch in unserem Fachbereich für die Prävention von seelischen Störbildern wichtig. Die Annahme der Klinischen Psychologie, dass die Lese-Rechtschreib-Störung automatisch ein seelisches Störbild darstellt, ist in der Fachwelt umstritten. Was wäre denn, wenn die Umweltbedingungen in der Eltern-Kind-Beziehung und Schule eine gesunde emotionale Entwicklung des Kindes fördern? Leider gibt es zurzeit keine Untersuchungen auf diesem Gebiet im Bereich der Legasthenieforschung. Denn es dominiert das medizinische Störbild einer irreversiblen, nicht zu bewältigenden seelischen Störung.
Fazit: Frühe Stresserfahrungen in der Kindheit, eine ungünstige Eltern-Kind-Beziehung sowie das schulische Umfeld können die emotionale Entwicklung beeinträchtigen, weil Kinder mit diesen frühen Stressoren überfordert sein können. Sie begünstigen bis in das Jugend- und Erwachsenenalter depressive Erkrankungen und mögliche seelische Schädigungen. Diese können sich bei Schulkindern mit Aggression, Wutausbrüchen sowie anderen Verhaltensstörungen als Gegenreaktion äußern. Es gibt keinen Automatismus für eine medizinische Lese-Rechtschreib-Störung, auch wenn die Legasthenie gehäufter in Familien auftritt – die Wechselwirkung mit den Umweltfaktoren darf nicht übersehen werden. Diese Faktoren müssen demnach ein Verstärker sein, der seelische Erkrankungen und den Erwerb von LRS begünstigt. Darum sind die frühe Bewältigung und die Vermeidung der Stressoren (elterliche und institutionelle seelische Gewalt) eine wichtige präventive Ressource, die sich durch Wertschätzung, Annahme, elterliche Liebe sowie verständnisvolle und fördernde Hilfe in der Schule äußern sollte. Eine gute Bindung zu Eltern und Lehrpersonal kann Kinder zusätzlich vor möglichen Verhaltensproblemen schützen oder diese zumindest abmildern. Sie sind wichtige Schutzfaktoren für eine langfristige Bewältigung der Legasthenie oder LRS.