In der DDR war der Begriff Legasthenie als spezielle Lese-Rechtschreib-Schwäche kaum bekannt. Viele Betroffene besuchten eine „Hilfsschule“, die noch heute als „Förderschule mit Schwerpunkt Lernen“ existiert. In einigen Großstädten gab es in den 80er Jahren neben den Sprachheilschulen LRS-Klassen, wie es sie heute noch in Sachsen gibt. Doch welche Erfahrungen haben die Wendekinder mit Legasthenie / LRS in ihrer schulischen Biografie gemacht? Wie haben sie die Wendeerfahrungen erlebt und verarbeitet? Diesem Thema möchten wir hier nachgehen.
Die Generation der Wendejugend (Jg. 1971-1980) und Wendekinder (Jg. 1981–1989) [Lettrari et al. 2016] – in der DDR geboren und teilweise sozialisiert – erfuhr oft eine andere Art der Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Lernschwierigkeiten als ihre Altersgenossen in den alten Bundesländern.
Die Wendeerfahrung wird von der erwachsenen Generation unterschiedlich beschrieben und bewertet, was eng mit der DDR-Sozialisierung zusammenhängt. Entsprechend werden auch die Erfahrungen mit den Lese-Rechtschreib-Schwächen anders wahrgenommen. In den alten Bundesländern war die Legasthenie schon früher als Teilleistungsschwäche anerkannt, während sie in der DDR oft als Lernbehinderung angesehen wurde. Viele Kinder und Jugendliche der Wendezeit mussten deshalb während ihrer Schullaufbahn eine Förderschule besuchen. Einige Betroffene erreichten auch einen regulären Abschluss an der POS bzw. EOS. Im DDR-System wurden Familien mit positivem Verhältnis zum Staat mehr unterstützt, auch wenn sie nicht die nötigen Leistungen erbrachten. Andersdenkende wurden in der schulischen und beruflichen Entwicklung oft benachteiligt, das betraf auch Legastheniker in christlichen Familien.
Mit der Wende brach das ganze System zusammen, viele Menschen erlebten einen Bruch ihrer Identität und Sozialisation und standen plötzlich vor großen Herausforderungen. Vor allem Kinder und Jugendliche erlebten eine Orientierungslosigkeit, weil ihre Eltern mit diesem Systembruch offensichtlich überfordert waren. Viele von LRS und Legasthenie Betroffene erhielten in dieser Zeit keine Hilfe, denn eine entsprechende Diagnostik und Lerntherapie gab es damals in Ostdeutschland nicht. Üblich waren nur die LRS-Klassen, die als kollektivistisches Relikt der DDR verstanden werden können, das die individuellen Lernprobleme nur unzureichend behandelt wurden.
Zu den biografischen Brüchen dieser Wendegeneration kamen für die Betroffenen die Schwierigkeiten hinzu, ihre Probleme beim Lesen und Schreiben zu erkennen. LRS und Legasthenie waren in der DDR-Bevölkerung kaum bekannt und galten oft als ein Stigma. In den alten Bundesländern hatten sich seit den 60er Jahren andere Auffassungen entwickelt, wonach diese Betroffenen nicht automatisch lernbehindert waren. Hier wird deutlich, dass der Umgang mit Legasthenie / LRS eng mit dem sozialen Umfeld verbunden ist. In einer freien Gesellschaft ist es theoretisch leichter, diese Lernschwierigkeiten zu bewältigen.
Bisher wurde das Thema Wendekinder und -jugend im Kontext von Legasthenie und LRS kaum wissenschaftlich erforscht. Wir sind in unserem beruflichen Alltag immer wieder mit diesen Biografien und den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland konfrontiert. Um die biografischen Veränderungsprozesse zu verstehen, ist es wichtig, sich mit den Hintergründen und den unterschiedlichen Sozialisationen zu beschäftigen.
Literaturverzeichnis:
Lettrari, Adriana; Nestler, Christian; Troi-Boeck, Nadja (Hrsg.) (2016): Die Generation der Wendekinder. Elaboration eines Forschungsfeldes. Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 127