Das Hörtraining für Kinder mit LRS, welches als Warnke-Verfahren bekannt ist, wird häufig in der Diagnostik und Therapie von Logopäden, Sprachheilpädagogen und klinischen Linguisten bei lese-rechtschreibschwachen Kindern eingesetzt (MediTech Electronic GmbH).
Bisher wurden kurzfristige Verbesserungen der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten und der Konzentrationsfähigkeit einer Studie
mit signifikanten Ergebnissen bestätigt.
Die Methode basiert auf der Hypothese des zeitlichen Verarbeitungsdefizits (Automatisierungstörung), was als mögliche Ursache einer Legasthenie von erschiedenen Forschergruppen beobachtet wurde (Fitch, R. H., Miller, S. & Tallal, P. 1997), wonach Kinder mit Problemen der Laut- und Schriftsprache auch Schwierigkeiten bei der zeitlichen Wahrnehmung rasch aufeinanderfolgender akustischer Signale zeigten. Deshalb wurden, laut Beobachtungen der Forscher an den LRS-Kindern, Konsonanten von Phonemen und Graphemen nur unzureichend erlernt. Es ist bisher nicht belegt, dass alle lese-rechtschreibschwachen Kinder die gleichen Defizite in der visuellen und auditiven Automatisierung haben.
Man weiß bisher, dass dies, mit erblichen Zusammenhängen aus einem Anlage-Umweltkomplex (Galaburda 03.06.2012), an der Hörschallverarbeitung liegen könnte. Diese Sinnesreize werden im Sprachzentrum im linken Scheitellappen, der linken Hirnhemisphäre, im Millisekundenbereich langsamer verarbeitet. Einzelne Zusammenhänge sind in der Forschung noch wenig bekannt, da bis heute zu selten an den Ursachen dieser komplexen Lernprobleme im Schriftspracherwerb geforscht wurde. Nach unserer Kenntnis gibt es zusätzlich Umweltprobleme, die diese Schwächen in unserer westlichen Industriegesellschaft bei Kindern insbesondere in der synaptischen Verschaltung der beiden Gehirnhälften begünstigen können und damit den Erwerb von
Lese-Rechtschreibschwächen (LRS) fördern. Weitere, bislang unerforschte Umweltbedingungen in Familie und Schule sind zudem denkbar.
Das Hörtraining mit dem Brain-Boy®, um die Zeitverarbeitungsdefizite ohne eine systematische Lese- und Rechtschreibförderung langfristig zu kompensieren – ist wissenschaftlich umstritten
(Schulte-Körner, Gerd, Remschmidt, Helmut 2003). Eine Studie zeigte schulische Verbesserungen mit dem nonverbalen Training. Bisher gibt es keine Vergleichsstudien, die langfristige Kompensierungseffekte bei Legasthenikern oder LRS-Betroffenen repräsentativ belegen würden. Fördermaßnahmen, die nicht auf das Erlernen und Vertiefen der Lese- nd Rechtschreibfertigkeiten abzielen, sind als Methode, einzelne Wahrnehmungsbereiche zu trainieren, nicht empfehlenswert. Die Verarbeitungsprobleme der visuellen und auditiven Teilleistungen sind bei betroffenen Kindern unterschiedlich ausgeprägt – jeder Schüler hat individuelle Schwierigkeiten. Daher ist der Nutzen dieser Methode empirisch nicht belegt. Eine symptomorientierte Einzelförderung ist für ein LRS-Kind unabdingbar. Geschlossene Methoden haben sich bisher in der Praxis nicht bewährt. Die Kärntner Legasthenieexpertin Dr. Astrid Kopp-Duller empfiehlt eine offene Methodenvielfalt in der Legasthenie- und LRS-Förderung. Diese hat sich in der Bewältigung der Lese-Recht-Schreibschwäche bei Kindern als wirksam bestätigt
(Legasthenie Coaching 2014).
Unser Gesamturteil:
Nach unserer Sicht ist das Trainieren des zentralen Hörvermögens strittig, um die mutmaßlichen Defizite lese- und rechtschreibschwacher Kinder (Warnke 1995) auszugleichen. Es ist nicht belegt,
dass alle betroffenen Kinder in gleichem Maße Verarbeitungsprobleme im visuellen und auditiven Ortungsschwellenbereich und des Richtungshörens aufweisen. Unklar bleibt auch, ob etwaige Verbesserungen der Diskriminationsfähigkeit (Sprachverständnis) auch langfristige Erfolge in Bezug auf die Lese-Rechtschreibleistungen bei Kindern nachgewiesen werden können.
Die Probleme bei Kindern sind wesentlich komplexer. Kinder mit Problemen im Schriftspracherwerb benötigen daher einen umfassenden Ansatz, der nicht nur auf ein nonverbales Training der Wahrnehmungsdefizite abzielt. Deswegen sollten Eltern diese Art der Therapie, welche häufig von Logopäden oder Ergotherapeuten angeboten wird, hinterfragen.
Auch wenn die Übernahme der Therapiekosten durch die Krankenkassen ein verlockendes Angebot ist. Nach gesetzlichen Gesichtspunkten sind solche Umwege einer Therapie bei Kindern in der Grauzone angesiedelt. Denn eine „Legasthenietherapie“ bzw. Einzelförderung wird nicht von den Krankenkassen finanziert. Eine Lese-Rechtschreibschwäche ist nach der Krankenkassengesetzgebung keine anerkannte Krankheit. Kinder erhalten „Hilfe zur Eingliederung“, nur bei einer attestierten Bedrohung einer seelischen Behinderung – erst über diesen Umweg in der Sozialgesetzgebung, wird Kindern mit LRS und Legasthenie eine Therapie oder Förderung vom Jungendamt finanziert
(Vgl., SGB 35a VIII).
Einige Fachleute argumentieren mit einer empirisch belegten Evidenz, einer Studie, die die Wirksamkeit dieser Methode belegen will (Tewes, Uwe, et al 2003). Bisher konnten die beobachteten Effekte des Warnke-Verfahrens nicht rezipiert werden. In einer unabhängigen wissenschaftlichen Arbeit wurden die Eltern der Kinder nach der Entwicklung der schulischen Leistungen nach Abschluss des Trainings mit dem Warnke-Verfahren befragt – die Mehrheit der Eltern war der Meinung, dass die Leistungen in der Schule „gleich geblieben“ wären (Winkler 2006, S.105). Der Freiburger Neuropsychologe Reinhard Werth übte Kritik an der Tewes‘ Studie: „die falschen Schlüsse“, die die Forscher aus ihrer Jagd nach einzelnen Genen und Grundfertigkeiten ziehen: „Der logische Fehler ist: Man schließt aus dem gleichzeitigen Auftreten von schlechtem Lesen und irgendeiner anderen Leistungsminderung auf einen ursächlichen Zusammenhang“ (Wolff 2010).
Ein Erfolg mit dem Training basaler Wahrnehmungsfunktionen ohne eine symptomspezifische Förderung in der Bewältigung von Lese-Rechtschreibproblemen ist bisher wissenschaftlich nicht
belegt. (Schulte-Körner, Gerd, Remschmidt, Helmut 2003, S. A 396) Daher sollte nach unserer Einschätzung diese Methode nicht in der Förderung bei LRS und Legasthenie zum Einsatz kommen.
Quellenverzeichnis
Fitch, R. H., Miller, S. & Tallal, P. (Hg.)
(1997): Neurobiology of speech perception. Review of Neuroscience, zuletzt geprüft am 04.10.2014
Galaburda, Albert
(03.06.2012): Developmental Dyslexia: The Intersection of Genes, Brains, and
Societies. Vortrag bei der Fachtagung des EÖDL an der Universität
Salzburg, am 02.06.2012, zuletzt geprüft am 17.10.2014
MediTech Electronic GmbH: Warnke-Verfahren.
Online verfügbar unter http://www.brainboy.de/warnkeverfahren.html, zuletzt
geprüft am 04.11.2015.
Warnke, F. (1995): Was Hänschen nicht hört… Elternratgeber Lese-Rechtschreib-Schwäche. Freiburg i. B., Verlag für
angewandte Kinesiologie
Winkler, Yvonne (2006): Erprobung eines Trainings der sequentiellen Analyse akustischer Reize bei Kindern mit einer
Lese-Rechtschreibstörung. Dissertation. Ludwig-Maximilians-Universität, München. Medizinischen Fakultät. Online verfügbar unter
https://edoc.ub.uni-muenchen.de/5475/1/Winkler_Yvonne.pdf, zuletzt geprüft am 08.10.2014
Legasthenie Coaching
(2014): Interview: Methodenvielfalt statt einzelner Förderprogramme sind in der
Förderung bei Legasthenie am wirksamsten. Interview. Hg. v. Lehmann, Lars
Michael. Legasthenie Coaching – Institut für Bildung und Forschung gUG
(haftungsbeschränkt). Online verfügbar unter
https://www.legasthenie-coaching.de/interview-methodenvielfalt-statt-einzelner-foerderprogramme-sind-der-foerderung-bei-legasthenie-wirksamsten/